1.000 Murmeln
Eine kleine Geschichte über den Wert der Zeit
von Jeffrey Davis, aus dem englischen von Ingo Schmidt
Je älter ich werde, desto mehr genieße ich den Samstagmorgen. Vielleicht
ist es die Ruhe und der Frieden, wenn man der erste ist, der
aufgestanden ist oder es ist die grenzenlose Freude, nicht an der Arbeit
sein zu müssen. Auf jeden Fall sind mir die ersten Stunden des
Samstagmorgens die liebsten.
Vor ein paar Wochen schlurfte ich in meinen Hobby-Keller, eine dampfende
Tasse Kaffee in der einen Hand und die Zeitung in der anderen. Was als
ein typischer Samstagmorgen begann, verwandelte sich in eine jener
Lehren, die das Leben anscheinend von Zeit zu Zeit für einen bereit
hält. Lassen Sie mich Ihnen davon erzählen.
Ich schaltete mein Funkgerät ein und suchte einen guten Kanal, um einem
der üblichen Samstagmorgen-Gespräche im Funknetz zuzuhören. Dabei stieß
ich auf einen Kanal mit ganz klarem Empfang, auf dem ein älter
klingender Mann mit einer sehr angenehmen und vollen Stimme sprach. Sie
wissen schon, diese Art von Stimme, bei der man meint, er müsste
Radiomoderator sein. Er erzählte irgendjemandem etwas über „1000
Murmeln“.
Ich wurde neugierig, blieb auf dem Kanal und begann zuzuhören, was er zu
sagen hatte. „Nun, Tom, es hört sich so an als hättest du sehr viel
Arbeit und Stress in deinem Beruf. Ich bin sicher du wirst gut bezahlt,
aber es ist eine Schande so lange von Familie und Kindern getrennt zu
sein. Es ist nicht in Ordnung, daß ein junger Mann 60 oder 70 Stunden
die Woche arbeiten muss, um sich und seine Familie über die Runden zu
bringen. Zu schade, daß Sie den Auftritt Ihrer Tochter beim
Tanzwettbewerb verpasst haben.“
Er fuhr fort: „ Ich möchte Ihnen etwas erzählen Tom, etwas das mir
selber geholfen hat meine eigenen Prioritäten im Blick zu behalten.“ Und
dann begann er seine Theorie mit den „1000 Murmeln“ zu erklären.
„Eines Tages setzte ich mich hin und begann ein bißchen zu rechnen. Der
Durchschnittsmensch lebt ungefähr fünfundsiebzig Jahre. Ich weiß, einige
leben etwas länger, andere sterben etwas früher, aber im Durchschnitt
leben die Leute ungefähr fünfundsiebzig Jahre. Jetzt multiplizierte ich
75 Jahre mal 52 Wochen pro Jahr, und ich kam auf 3900, die Zahl der
Samstage, die der Durchschnittsmensch in seinem kompletten Leben hat.
Hören Sie gut zu, jetzt komme ich zum wichtigsten Teil.
Es dauerte bis ich 55 war, um das in allen Details zu durchdenken“, fuhr
er fort. „Bis dahin hatte ich also schon mehr als 2800 Samstage erlebt.
Ich erkannte, daß ich, wenn ich 75 Jahre alt werden würde, nur noch
etwa 1000 Samstage hätte, um sie zu genießen.
Und so ging ich zu einem Spielwarengeschäft und kaufte jede einzelne
Murmel, die sie hatten. Am Ende musste ich drei Spielzeuggeschäfte
besuchen, um meine 1000 Murmeln zusammen zu bekommen. Ich nahm sie mit
nach Hause und stellte sie mir in einem großen Glas in meinem
Hobby-Keller in das Regal neben meinem Funkgerät. Seitdem habe ich jeden
Samstag eine Murmel aus dem Glas genommen und weggeworfen.
Und indem ich beobachten konnte wie die Murmeln immer weniger wurden,
fiel es mir leichter, mich auf die wichtigen Dinge im Leben zu
konzentrieren. Es gibt nichts, was beeindruckender ist als zu sehen wie
die Zeit, die man auf der Welt zur Verfügung hat, verrinnt um sich an
die wirklich wichtigen Dinge zu erinnern und seine Prioritäten richtig
zu setzen.
Bevor ich mich verabschiede und mit meiner wundervollen Frau in die
Stadt zum Frühstücken gehe, möchte ich Ihnen noch etwas erzählen. Ich
habe heute, an diesem Morgen, meine allerletzte Murmel aus dem Glas
genommen. Mir scheint, wenn ich es bis nächsten Samstag schaffe, habe
ich etwas zusätzliche Zeit geschenkt bekommen. Und wenn es etwas gibt,
das wir alle gut gebrauchen können, dann ist es wohl etwas zusätzliche
Zeit.
Es war nett, Tom, Sie hier zu treffen. Ich hoffe, dass Sie mehr Zeit mit
Ihrer Familie verbringen, und ich hoffe, Sie mal wieder hier auf dem
Kanal zu treffen.“
Er verabschiedete sich mit „73old man, dies ist K9NZQ clear and going
QRT. Guten Morgen!" Man hätte auf dem Kanal eine Stecknadel fallen hören
können, als dieser Funker sich verabschiedet hatte. Ich glaube daß er
uns allen sehr viel zum Nachdenken gegeben hatte. Ich hatte vorgehabt,
an diesem Samstag etwas an meiner Funkantenne zu basteln und dann am
Nachmittag mit ein paar anderen Funkern an der nächsten Ausgabe unserer
Vereinszeitung zu arbeiten. Statt dessen ging ich nach oben, weckte
meine Frau mit einem Kuss und sagte „Komm Liebling, wir nehmen die
Kinder mit und fahren in die Stadt, ich lade euch ein zu einem schönen
Frühstück.“
„Wie kommt das?“ fragte sie mit einem Lächeln.
„Oh, nichts besonderes, aber es ist lange her, daß wir einen Samstag
zusammen mit den Kindern verbracht haben. Ach ja, können wir an einem
Spielzeugladen anhalten? Ich muss noch ein paar Murmeln kaufen…“
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